Singer, Wolf , "Kunst oder Wissenschaft". In: Bredekamp, Horst und J. Brüning, C. Weber (Hg.), Theater der Natur und Kunst (Ausstellung der Humboldt-Universität zu Berlin, Martin-Gropius-Bau Berlin 10.12.2000 - 4.3.2001); Henschel, Berlin 2000, S. 40-41

 

Kunst oder Wissenschaft


Wolf Singer

Kunst und Wissenschaft erscheinen als komplementäre Versuche, die Bedingungen der Welt zu ergründen, die verschiedener nicht sein könnten. Künstler erforschen ihr innerstes Erleben, suchen Ausdruck für das Erkannte und fügen damit dem Vorgefundenen neue Wirklichkeiten hinzu, - Wissenschaftler sammeln und beschreiben das Vorgefundene, ordnen durch Trennen und Verbinden, decken Regelmäßigkeiten auf und formulieren Gesetze, lassen nur gelten, was durch Reproduzierbarkeit beweisbar ist, was funktioniert, oder zumindest für alle gleichermaßen nachvollziehbar ist, die sich an vereinbarte Regeln für die Beobachtung und Ordnung der Phänomene halten. Die einen geben Auskunft über ihre höchst private, also subjektive Welterfahrung, die anderen nehmen für sich in Anspruch, sie zeichneten ein objektives Bild der Welt. Und doch ist, was beide tun, so verschieden nicht. Gemeinsam ist ihnen die Ahnung, daß das konkrete Inventar unsere Welt, daß die Dinge, die Greifbaren, die Sichtbaren die Fixpunkte in einem unendlich komplexen Geflecht von Bezügen sind, die primärer Wahrnehmung unzugänglich den Dingen erst Bedeutung verleihen; gemeinsam ist beiden, das - oft leidenschaftliche - Verlangen, diese Beziehungen erfahrbar zu machen, Beschreibungen für das Unsichtbare, mit den Sinnen nicht unmittelbar Faßbare zu finden, gemeinsam ist beiden auch, wenn sie denn ihren Ansprüchen gerecht werden, die Fähigkeit, Sprachen zu erlernen oder zu erfinden, mit denen sich solches bewerkstelligen läßt. Freilich kommen diese Kunstsprachen in Verkleidungen daher, die sie trotz ähnlicher Tiefenstrukturen unverwandt erscheinen lassen. Vermutlich verdankt sich das Aufdecken verborgener Bezüge, die Zuschreibung bedeutsamer Zusammenhänge immer den gleichen kognitiven Prozessen, einer Leistung unseres Gehirns, die wir als Kreativität ansprechen: Beobachten des unvermittelt Erfahrbaren, Erahnen von Bezügen, spielerisches Permutieren der kombinatorischen Möglichkeiten, Eingrenzen und Eliminieren, Erspüren von Stimmigkeit nach wer weiß welchen Kriterien - vielleicht sind auch die der Logik ästhetische - und dann das Bewußtwerden der Gewißheit - falls die Übung gelungen ist - daß eine neue Beziehung aufgedeckt, eine neue Bedeutungszuweisung gelungen ist. Wir wissen nicht, was diese meist mühevolle Suche motiviert, wir wissen auch nicht, warum die Aufdeckung neuer Zusammenhänge, warum die Erfahrung der Stimmigkeit so gut tut, daß die Suche nach ihr zur oft schmerzlich empfundenen Sucht werden kann. Schwer vorstellbar ist jedoch, daß dem Ringen um den richtigen Satz in der künstlerischen Aussage anderes zugrunde liegen sollte als der Suche nach stimmigen Bezügen in den Wissenschaften - und deshalb ist gut, wenn sich Kunst und Wissenschaft zueinander bekennen.

Gabriele Leidloff muß die unsichtbaren Bezüge zwischen den bislang unverbundenen Sprachen dieser beiden Beschreibungssysteme geahnt haben, als sie begann, Werkzeuge für ihre Suche zu nutzen, welche die anderen entwickelten, um Unsichtbares vorstellbar zu machen. Ihre Arbeiten mit den bildgebenden Verfahren der Medizin und ihr Projekt l o g - i n/l o c k e d o u t - ein Forum zwischen Kunst und Neurowissenschaft - stehen als Metaphern für die Ahnung, daß hinter den Erscheinungen Tiefenstrukturen und Beziehungen verborgen liegen, die es zu ergründen gilt, wenn mehr über die Welt in Erfahrung gebracht werden soll, als uns die Sinne unvermittelt erkennen lassen - Sinne, die sich aufgrund evolutionärer Pragmatik zunächst nur für das interessieren, was an der Oberfläche liegt und dem Fortkommen dienlich ist. Die Suche nach verborgenen Beziehungen und Grundstrukturen verrät sich auch im kombinatorischen Spiel, in dem Frau Leidloff durch Permutation von Gegenüberstellungen den Beziehungsraum auslotet. Auch hier geht die Reduktion auf das Charakteristische der kombinatorischen Suche nach Bezügen voraus - ein gängiges Verfahren in den Wissenschaften. Gabriele Leidloff setzt Abbilder, Imitationen, Kopien, Ausschnitte in Beziehung, nicht die konkreten Objekte selbst. Sie interessiert sich für Relationen zwischen bereits abstrahierten Inhalten und nutzt dabei die reduktionistische Wirkung jedweder Abbildungsverfahren. Damit befreit sie den Betrachter von dem Zwang, den vorgefertigte Bildsprachen der Medien ausüben, schützt ihn vor der Vereinnahmung durch konkrete, ausformulierte Bilder, die keinen Raum lassen für vagabundierende Aufmerksamkeit und die Suche nach Unsichtbarem. Denn Abbilder, Ausschnitte und fragmentierte Sequenzen bedürfen der individuellen Rekonstruktion, erfordern vom Betrachter synthetische Leistungen, räumen die Option ein, sich auf das nicht Sichtbare zu konzentrieren, auf das Dazwischen, auf die Bezüge, die den dargestellten Fixpunkten zur Bedeutung verhelfen.

Und so erzeugt die Suche nach dem Unsichtbaren neue Wirklichkeiten, die zum Vorwurf für weitere Forschung mutieren. Weder Wissenschaft noch Kunst können deshalb jemals am Ende sein, und weil sie die gleiche Welt zu ergründen suchen, tun sie gut daran, die Vorschläge des je anderen zur Kenntnis zu nehmen - einen Weg weisen die Arbeiten von Gabriele Leidloff.